10 Die schönsten Füße der Welt
Um sich abzulenken, hat die junge Arztfrau angefangen zu stricken, aber bald schon hat sie Nadel und Wollknäuel in die Sofaecke geworfen; dann hat sie ein Buch aufgeschlagen, wenige Zeilen gelesen, das Buch wieder zugeklappt; sie hat sich einen Whiskey eingeschenkt, nachdenklich das Glas in kleinen Schlucken geleert, ein anderes Buch aufgeschlagen, auch dieses wieder zugeschlagen; sie hat Seufzer ausgestoßen, zum Telefonhörer gegriffen, ihn wieder aufgelegt: wen sollte sie schon anrufen?
Dann murmelte eins ihrer Kinder im Schlaf, die junge Frau ging leise durch den Flur ins Kinderschlafzimmer, deckte die Kinder noch einmal zu, zog Laken und Decken glatt an vier Kinderbetten. Im Flur blieb sie vor der großen Landkarte stehen, die, vor Alter gelb, mit geheimnisvollen Zeichen bedeckt, fast aussieht wie eine Vergrößerung der Karte der ›Schatzinsel‹: ringsum Meer, dunkelbraun wie Mahagoni sind die Berge, hellbraun die Täler eingezeichnet, schwarz die Straßen und Wege, grün die kleinen kultivierten Flächen um die winzigen Dörfer herum, und überall sticht die blaue Zunge der See in Buchten weit in die Insel vor; kleine Kreuze: Kirchen, Kapellen, Friedhöfe; kleine Häfen, Leuchttürme, Klippen — langsam schiebt sich der Zeigefinger der Frau mit dem silbern lackierten Nagel die Straße entlang, auf der ihr Mann vor zwei Stunden davonfuhr: ein Dorf, zwei Meilen Moor, ein Dorf, drei Meilen Moor, eine Kirche — die junge Frau bekreuzigt sich, als führe sie wirklich an der Kirche vorüber — , fünf Meilen Moor, ein Dorf, zwei Meilen Moor, eine Kirche - ein Kreuzzeichen; die Tankstelle, Teddy O’Malleys Bar, Becketts Laden, drei Meilen Moor — langsam schiebt sich der silbern lackierte Fingernagel wie ein glitzerndes Automodell auf der Landkarte vor, bis er den Sund erreicht, wo die kräftig schwarze Linie der Landstraße über die Brücke zum Festland schwenkt, der Weg aber, den ihr Mann nehmen mußte, nur noch als dünner, schwarzer Strich hart an der Inselkante vorbeigeht, stellenweise mit der Kante zusammenfällt. Dunkelbraun ist hier die Karte, die Küstenlinie ausgezackt und unregelmäßig wie das Kardiogramm eines sehr unruhigen Herzens, und jemand hat mit Kugelschreiber in die blaue Meerfarbe geschrieben: 200 Fuß - 380 Fuß — 300 Fuß, und jede dieser Zahlen ist mit einem Pfeil versehen, der verdeutlicht, daß diese Angaben nicht der Meerestiefe gelten, sondern dem Gefälle der Küste, die an diesen Stellen mit dem Weg zusammenfällt. Immer wieder stockt der silbern lackierte Zeigefingernagel, denn die junge Frau kennt jeden Schritt dieses Weges: oft hat sie ihren Mann begleitet, wenn er Krankenbesuche machte in dem einzigen Haus, das dort an dem sechs Meilen langen Küstenstreifen liegt. Touristen genießen diese Fahrt an sonnigen Tagen mit leichtem Schauder, da sie auf einige Kilometer vom Auto aus senkrecht auf die weiß züngelnde See blicken; eine kleine Unachtsamkeit nur, und das Auto erleidet Schiffbruch an diesen Klippen dort unten, wo manches Schiff schon zerschellt ist. Naß ist der Weg, mit Geröll übersät, mit Schafdung bedeckt an den Stellen, wo sich die alten Trampelpfade der Schafe mit dem Weg kreuzen — plötzlich stockt der Zeigefingernagel: hier fällt der Weg in eine kleine Bucht hinein steil ab, steigt wieder an: die See brüllt in eine cañonartige Schlucht hinein; Millionen Jahre alt ist diese Wut, die sich schon tief unter den Felsen gefressen hat — wieder stockt der Zeigefinger: hier lag ein kleiner Friedhof für ungetaufte Kinder; ein einziges Grab ist noch zu sehen, mit Quarzbrocken eingefaßt: die anderen Gebeine hat die See abgeholt — über eine alte Brücke, die kein Geländer mehr hat, schiebt sich nun vorsichtig das Auto, dreht, und im Scheinwerferlicht sind die winkenden Arme wartender Frauen zu sehen: in dieser äußersten Ecke wohnt Aedan McNamara, dessen Frau diese Nacht ein Kind erwartet.
Die junge Arztfrau fröstelt, schüttelt den Kopf, geht langsam ins Wohnzimmer zurück, häuft neuen Torf auf, stochert in der Glut, bis die Flammen hochlecken; die Frau greift zum Strickknäuel, wirft es in die Sofaecke zurück, steht auf, geht zum Spiegel, bleibt eine halbe Minute nachdenklich mit gesenktem Kopf stehen, wirft den Kopf plötzlich hoch und blickt sich ins Gesicht: ihr Kindergesicht wirkt mit dem scharfen Make-up noch kindlicher, fast wie das einer Puppe, aber die Puppe hat selbst vier Kinder. Dublin ist so weit — Grafton Street — O’Connell Bridge — die Kais; Kinos und Bälle — Abbey Theatre — werktags morgens um 11 Uhr die Messe in St. Theresa Church, zu der man pünktlich kommen muß, um noch Platz zu finden — seufzend geht die junge Frau zum Kamin zurück. Muß Aedan McNamaras Frau ausgerechnet immer nachts ihre Kinder kriegen und immer im September? Aber Aedan McNamara arbeitet von März bis Dezember in England, kommt um Weihnachten erst nach Hause, für drei Monate, um seinen Torf zu stechen, das Haus neu zu streichen, das Dach zu reparieren, heimlich an diesem zerklüfteten Küstenstreifen ein wenig auf Lachsfang zu gehen, nach Strandgut zu suchen — und um das nächste Kind zu zeugen: so kommen Aedan McNamaras Kinder immer im September, um den 23. herum: neun Monate nach Weihnachten, wenn die großen Stürme kommen, die See meilenweit schneeweiß ist von zornigem Schaum. Aedan sitzt jetzt wahrscheinlich in Birmingham an einer Bartheke, ängstlich wie alle werdenden Väter, flucht auf die Hartnäckigkeit seiner Frau, die aus dieser Einsamkeit nicht zu vertreiben ist: eine dunkelhaarige trotzige Schönheit, deren Kinder alle Septemberkinder sind; unter den verfallenen Häusern des Dorfes bewohnt sie das einzige noch nicht verlassene. An diesem Punkt der Küste, dessen Schönheit weh tut, weil man an sonnigen Tagen dreißig, vierzig Kilometer weit blicken kann, ohne eines Menschen Haus zu sehen: nur Bläue, Inseln, die nicht wahr sind, und die See. Hinter dem Haus steigt der kahle Hang auf, vierhundert Fuß hoch, und dreihundert Schritte vom Haus entfernt fällt die Küste dreihundert Fuß steil ab; schwarzes, nacktes Gestein, Schluchten, Höhlen, die fünfzig, siebzig Meter tief in den Felsen gebohrt sind; aus denen an stürmischen Tagen der Schaum drohend aufsteigt, wie ein weißer Finger, dessen Glieder der Sturm einzeln wegträgt.
Von hier aus ging Nuala McNamara nach New York, um bei Woolworth Seidenstrümpfe zu verkaufen, John wurde Lehrer in Dublin, Tommy Jesuit in Rom, Brigid heiratete nach London — aber Mary hält zäh diesen hoffnungslosen einsamen Flecken, an dem sie seit vier Jahren in jedem September ein Kind zur Welt bringt.
»Kommen Sie am vierundzwanzigsten, Doktor, gegen elf, und ich schwöre Ihnen, daß Sie nicht vergebens kommen.«
In zehn Tagen schon wird sie mit dem alten Knotenstock ihres Vaters oben am Rand der steilen Küste entlanggehen, nach ihren Schafen ausschauen und nach jenen Gütern, die für die Küstenbewohner ein Ersatz für die Lotterie sind (in der sie natürlich nebenbei noch spielen), mit dem scharfen Auge der Küstenbewohnerin wird sie nach Strandgut ausschauen, nach dem Fernglas greifen, wenn Umriß und Farbe eines Gegenstands ihrem beutesicheren Auge verraten, daß es kein Felsen ist. Kennt sie nicht jeden Felsen, jeden Geröllbrocken an dieser sechs Meilen langen Küste — kennt sie nicht jede Klippe bei jedem Gezeitenstand? Drei Ballen Rohgummi fand sie allein im Oktober vorigen Jahres nach den großen Stürmen, sie verbarg sie in der Höhle oberhalb der Flutlinie, in der vor Jahrhunderten ihre Vorfahren schon Teakholz, Kupfer, Branntweinfässer, ganze Schiffseinrichtungen vor den Augen der Gendarmen verbargen.
Die junge Frau mit den silbern lackierten Fingernägeln lächelt, sie hat den zweiten Whiskey getrunken, einen großen, der endlich ihre Unruhe beschwichtigte: man muß nur nachdenklich jedem Schlückchen nachsinnen: dieses Feuerwasser wirkt nicht nur in die Tiefe, auch in die Breite. Hat sie nicht selbst vier Kinder geboren, und ist ihr Mann nicht schon dreimal von dieser Fahrt durch die Septembernacht zurückgekommen? Die junge Frau lächelt, wovon spricht Mary McNamara, wenn man sie trifft? Von etwas, das Radar heißt: sie sucht ein handliches, leicht transportables Radargerät, mit dem sie in den unzähligen Buchten und zwischen Klippen Kupfer und Zinn, Eisen und Silber zu finden hofft.
Die junge Frau geht wieder in den Flur zurück, horcht durch die offene Tür noch einmal auf das ruhige Atmen ihrer Kinder, lächelt, setzt den silbern lackierten Zeigefingernagel wieder auf die alte Landkarte, schiebt ihn rechnend vor: eine halbe Stunde über die glatte Straße bis zum Sund, eine dreiviertel Stunde bis zu Aedan McNamaras Haus, und wenn das Kind wirklich so pünktlich kommt, die beiden Frauen aus dem Nachbardorf schon dort sind: zwei Stunden vielleicht für die Geburt; noch einmal eine halbe Stunde für die cup of tea, die alles sein kann zwischen einer Tasse Tee und einer gewaltigen Mahlzeit; noch einmal eine dreiviertel Stunde und eine halbe für die Rückfahrt: fünf Stunden insgesamt. Um neun ist Ted gefahren, gegen zwei also müßten die Scheinwerfer seines Autos dort hinten, wo die Straße über den Berg springt, zu sehen sein. Die junge Frau blickt auf ihre Armbanduhr: gerade halb eins vorüber. Noch einmal langsam mit dem Silberfinger über die Karte: Moor, Dorf, Kirche, Moor, Dorf, eine gesprengte Kaserne, Moor, Dorf, Moor.
Die junge Frau geht zum Kaminfeuer zurück, legt neuen Torf auf, stochert, denkt nach, greift zur Zeitung. Auf der Titelseite sind die privaten Anzeigen zu finden: Geburten, Todesfälle, Verlobungen, und eine besondere Spalte, die ›In Memoriam‹ heißt: dort werden Jahrgedächtnisse, Sechswochenämter angekündigt, oder es wird nur an den Sterbetag erinnert: »Zur Erinnerung an die inniggeliebte Moira McDermott, die vor einem Jahr in Tipperary starb. Gütiger Jesus, hab Erbarmen mit ihrer Seele. Mögt auch Ihr, die Ihr heute an sie denkt, ein Gebet an Jesus richten.« Zwei Spalten, vierzigmal betet die junge Frau mit den silbern lackierten Fingernägeln »Gütiger Jesus, erbarme dich seiner erbarme dich ihrer« für die Joyces und McCarthys, die Molloys und Galaghers.
Dann kommen die Silberhochzeiten, die verlorenen Ringe, gefundenen Geldbörsen, amtliche Bekanntmachungen.
Sieben Nonnen, die nach Australien, sechs, die nach Nordamerika gehen, lächelten dem Pressefotografen zu. Siebenundzwanzig Neupriester lächelten dem Pressefotografen zu. Fünfzehn Bischöfe, die über die Probleme der Emigration berieten, taten dasselbe.
Auf der dritten Seite der tägliche Stier, der eine Serie preisgekrönter Zuchtbullen fortsetzt; dann kommen Malenkow, Bulganin und Serow — weitergeblättert; ein preisgekröntes Schaf, den Blumenkranz zwischen den Hörnern; ein junges Mädchen, das bei einem Gesangwettbewerb den ersten Preis erhielt, zeigte den Pressefotografen sein hübsches Gesicht und seine häßlichen Zähne. Dreißig Absolventinnen eines Internats trafen sich fünfzehn Jahre nach dem Examen: einige sind in die Breite gegangen, andere ragen schlank aus dem Gruppenbild heraus, sogar auf dem Zeitungsfoto ist das scharfe Make-up zu erkennen: Münder wie Tusche, Brauen wie zarte kräftige Pinselstriche. Vereint waren die dreißig bei der Messe, bei Tee und Kuchen, beim abendlichen Rosenkranz.
Die drei täglichen Comic-Fortsetzungen: ›Rip Kirby‹, ›Hopalong Cassidy‹ und ›The Heart of Juliet Jones‹. Hart ist das Herz der Juliet Jones.
Flüchtig, so nebenbei, während ihre Augen schon halb auf der Kinoreklame ruhen, liest die junge Frau eine Reportage über Westdeutschland ›Wie sie in Westdeutschland ihre religiöse Freiheit nutzen‹. Zum ersten Mal in der deutschen Geschichte — so liest die junge Frau — gibt es in Westdeutschland vollkommene Freiheit der Religionsausübung. Armes Deutschland, denkt die junge Frau und schließt ein »Gütiger Jesus, erbarme dich ihrer« an.
Längst hat sie die Kinoreklame überflogen, schon ruht ihr Auge begierig auf der Spalte, die ›Wedding Bells‹ (Hochzeitsglocken) heißt: eine lange Spalte; da hat also Dermot O’Hara die Siobhan O’Shaugnessy geheiratet: Stand und Wohnort beider Elternpaare, des Brautführers, der Brautführerin, der Trauzeugen werden genauestens angegeben.
Seufzend, in der heimlichen Hoffnung, daß eine Stunde vergangen sein möge, blickt die junge Frau auf die Uhr: aber es ist erst eine halbe Stunde vergangen, und sie senkt ihr Gesicht wieder in die Zeitung. Reisen werden angezeigt: nach Rom, Lourdes, Lisieux, nach Paris in die Rue du Bac, zum Grab der Katharina Labouré; und da kann man sich für wenige Schillinge in das Goldene Buch des Gebets eintragen lassen. Ein neues Missionshaus ist eröffnet worden: strahlend stellten die Gründer sich der Kamera. In einem Nest in Mayo, vierhundertfünfzig Einwohner, hat dank der Aktivität des örtlichen Festival-Komitees ein wirkliches Festival stattgefunden: Wettbewerbe gab es in Eselreiten, Sacklaufen, Weitsprung und im Langsamfahren für Fahrräder: grinsend hielt der Sieger im Langsamfahren für Fahrräder sein Jungengesicht dem Pressefotografen hin: er, ein zarter Lehrling der Lebensmittelbranche, wußte am besten die Bremsen zu bedienen.
Sturm ist draußen aufgekommen, das Gebrüll der Brandung tönt herauf, und die junge Frau legt die Zeitung aus der Hand, steht auf, tritt ans Fenster und blickt in die Bucht hinaus: schwarz wie uralte Tinte sind die Felsen, obwohl die Münze des Mondes klar und voll über der Bucht schwebt; auch in die See dringt dieses klare, kalte Licht nicht ein: es haftet nur auf ihrer Oberfläche, wie Wasser auf Glas haftet, gibt dem Strand eine sanfte Rostfarbe, liegt auf dem Moor wie Schimmel; das kleine Licht unten im Hafen schwankt, die schwarzen Boote schaukeln...
Sicher schadet es nicht, auch für Mary McNamara ein paar »Gütiger Jesus, erbarme dich ihrer« zu beten: Schweißperlen stehen jetzt auf diesem blassen, stolzen Gesicht, das auf eine unbeschreibliche Weise Härte und Güte zugleich ausdrückt: ein Hirtengesicht, ein Fischergesicht; vielleicht sah Jeanne d’Arc so aus...
Die junge Frau wendet sich von der Kälte des Mondes ab, raucht eine Zigarette, verkneift sich den dritten Whiskey, nimmt die Zeitung wieder auf, überfliegt sie, während ihr Kopf weiter »Gütiger Jesus, erbarme dich ihrer« arbeitet — während sie den Sportteil überfliegt, den Marktbericht, Schiffsbewegungen — , denkt sie an Mary McNamara: Wasser ist jetzt in dem herrlichen Kupferkessel erhitzt worden, über dem Torffeuer; in diesem rotgoldenen Topf, der so groß ist wie eine kleine Kinderbadewanne, den einer von Marys Vorfahren auf einem Wrack aus der großen Armada geborgen haben soll: vielleicht brauten spanische Matrosen in ihm ihr Bier, kochten ihre Suppe. Öllampen und Kerzen brennen jetzt vor allen Heiligenbildern, und Marys Füße, die Halt suchen, pressen sich gegen die Stäbe des Betts, rutschen aus, und man sieht jetzt ihre Füße: weiß, zart, kräftig: die schönsten Füße, die die junge Arztfrau je gesehen hat — und sie hat viele Füße gesehen: in der orthopädischen Klinik in Dublin, in einem dieser Fußkrankenläden, wo sie sich während der Ferien Geld verdiente: die armen häßlichen Füße derer, die ihre Füße gar nicht mehr benutzen; und an vielen Stränden hat die junge Frau nackte Füße gesehen: in Dublin, in Kiliney, Rossbeigh, Sandymount, Malahide, Bray und im Sommer hier, wenn die Badegäste kommen — noch nie hat sie so schöne Füße gesehen wie die der Mary McNamara. Man müßte Balladen dichten können, denkt sie seufzend, um Marys Füße zu preisen: Füße, die über Felsen klettern, über Klippen, durch Moore waten, meilenweit über die Straße — Füße, die sich jetzt gegen die Stäbe des Betts stemmen, um das Kind aus dem Leib zu pressen. Füße, wie ich sie bei keiner Filmschauspielerin je gesehen habe, sicher die schönsten Füße der Welt: weiß, zart, kräftig, beweglich fast wie Hände, Füße Athenes, Füße Jeanne d’Arcs.
Langsam taucht die junge Frau wieder in Zeitungsanzeigen unter: Häuser zu verkaufen: siebzig zählt sie: das bedeutet siebzig Auswanderer, siebzigmal Grund, den Gütigen Jesus anzurufen. Häuser gesucht: zwei oh, Kathleen ni Houlihan, was machst du aus deinen Kindern! Bauernhöfe zu verkaufen: neun; gesucht wird keiner. Junge Männer, die sich zum Klosterleben berufen fühlen — junge Mädchen, die sich zum Klosterleben berufen fühlen... Englische Krankenhäuser suchen Nurses. Günstige Bedingungen, bezahlter Urlaub und einmal im Jahr eine freie Fahrt nach Hause.
Noch einmal in den Spiegel gesehen: vorsichtig das Lippenrot neu gezogen, die Augenbrauen gebürstet und am Zeigefinger der rechten Hand den silbernen Nagellack erneuert, der bei der Reise über die Landkarte absprang. Wieder in den Flur und mit dem neulackierten Zeigefinger noch einmal bis zu jenem Punkt gereist, wo die Frau mit den schönsten Füßen der Welt wohnt, lange den Finger dort ruhen lassen, sich die Örtlichkeit ins Gedächtnis rufen: sechs Meilen Steilküste, und an Sommertagen den Blick in die Unendlichkeit der Bläue, in der die Inseln draußen schwimmen, als seien sie erlogen, Inseln, ständig vom zornigen Weiß der See umgeben; Inseln, die nicht wahr sein können: grün, schwarz: eine Fata Morgana, die so weh tut, weil sie keine ist, weil sie die Täuschung ausschließt — und weil Aedan McNamara in Birmingham arbeiten muß, damit seine Familie hier leben kann. Sind nicht alle Iren an der Westküste fast wie Feriengäste, weil das Geld für ihren Lebensunterhalt anderswo verdient wird? Hart ist die Bläue der Ferne, die Inseln sind wie aus Basalt aus ihr herausgehauen; sehr selten einmal ein winziges schwarzes Boot: Menschen.
Das Gebrüll der Brandung ängstigt die junge Frau: wie sie manchmal — im Herbst, im Winter, wenn die Stürme wochenlang wehen, die Brandung wochenlang brüllt, der Regen regnet — sich nach den dunklen Mauern der Städte sehnt. Sie blickt noch einmal auf die Uhr: fast halb zwei; sie geht zum Fenster, blickt auf die nackte Münze des Mondes, die weiter auf das westliche Ende der Bucht zugewandert ist; plötzlich die Scheinwerferkegel vom Auto ihres Mannes: hilflos wie Arme, die keinen Halt finden, turnen sie am grauen Gewölk herum, senken sich — das Auto hat die Steigung also fast genommen — , schießen über die Höhe erst auf die Dächer des Dorfes, senken sich auf die Straße: zwei Meilen Moor noch, das Dorf und dann die Hupe, dreimal und wieder: dreimal, und alle Leute im Dorf wissen es: Mary McNamara hat einen Jungen geboren, pünktlich in der Nacht vom 24. auf den 25. September; jetzt wird der Postmeister aus dem Bett springen, die Telegramme nach Birmingham, Rom, New York und London aufgeben; noch einmal die Hupe, für die Bewohner des Oberdorfs: dreimal: Mary McNamara hat einen Jungen geboren.
Schon ist das Motorengeräusch zu hören, lauter, nah, scharf wirft der Scheinwerfer die Schatten der Fächerpalmen an die weißen Hauswände, verliert sich im Unterholz des Oleandergebüschs, hält an, und im Lichtschein, der aus ihrem Fenster fällt, sieht die junge Frau den riesigen Kupferkessel, der von der großen Armada stammen soll. Ihr Mann hält ihn lachend ins volle Licht.
»Ein königliches Honorar«, sagt er leise, und die Frau schließt das Fenster, wirft noch einen Blick in den Spiegel und schenkt zwei Whiskeygläser voll: auf die schönsten Füße der Welt!